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zur homepage Rainer Atzbach, Die mittelalterlichen Funde und Befunde der Ausgrabung Hannover-Bohlendamm

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9. Ergebnis:

9.1 Die haus- und siedlungskundliche Entwicklung

9.2 Die materielle Kultur

9.3 Perspektiven für die Stadtkernforschung

9. Ergebnis

9.1. Die haus- und siedlungskundliche Entwicklung

Bis zum 11. Jh. liegt das Grabungsgelände im Streubereich menschlicher Besiedlung, ohne daß sich konkrete Befunde erhalten haben. Im späten 11. Jh. zeugen ein Grubenbau und zugehörige Pfostenspuren von einer ersten Bebauung, die vage an den Haustyp "Gasselte B" erinnert, den hochmittelalterlichen Vorläufer des niederdeutschen Hallenhauses. Von diesem Zeitpunkt an ist die südliche Dammstraße kontinuierlich bewohnt: Im 12. Jh. entsteht ein dünnwandiger Massivbau oder eher ein Ständerbau über massivem Fundament, der auf einen gehobenen Rang des Grundeigentümers hinweist. Wahrscheinlich im Zuge der Belagerung Hannovers 1189 durch Heinrich VI. geht die gesamte Bebauung in einem Feuer unter.

Nach einer provisorischen Wiederherstellung wird um 1200 ein wohl zweigeschossiges Steinwerk errichtet, das hinter dem nur erschließbaren Vorderhaus an der Längsseite eines Großgrundstückes liegt: Die Ostseite dieses umzäunten Grundstückes wird von einem großen Graben begrenzt, der eine Ausdehnung bis etwa in den Bereich der Parzelle K 46 und auch über die historische Dammstraße hinaus bis zur Parzelle L 294/295 plausibel macht. Abgesehen von einem Grubenhaus (?) sind keine weiteren Überreste der zugehörigen Bebauung erhalten. Dieser Komplex gehört in das Umfeld der wehrhaften Bauten. Vergleichbare frühstädtische Großgrundstücke sind für Hannover zu vermuten und in mehreren norddeutschen Städten nachgewiesen. Der Eigentümer war sicher Angehöriger der frühstädtischen Oberschicht und möglicherweise der landesherrlichen Ministerialität (Abb. 13).

Wohl gleichzeitig mit der Bestätigung des Stadtrechtes und der Vollendung der Stadtbefestigung in der Mitte des 13. Jh. wird das Großgrundstück auf mehrere längsrechteckige Parzellen aufgeteilt, die von der neu angelegten Dammstraße erschlossen werden. Daraus ergibt sich, daß die frühstädtische Oberschicht offenbar nicht auf den Bereich der "Lehnshofsiedlung" oder der "Marktsiedlung" der Forschungsgeschichte beschränkt ist, sondern die frühe Entwicklung Hannovers polyzentrischer gestaltet ist als bisher angenommen. Im 13. Jh. liegt die Zäsur zwischen der frühstädtischen und der städtischen Phase Hannovers: Sie schlägt sich nicht nur in der juristischen Bestätigung (!) des Stadtrechts nieder, sondern auch in der Veränderung der Grundrißstruktur. Zudem belegt die starke Zunahme an Keramikfunden eine deutliche Intensivierung der Siedlungstätigkeit in der ersten Jahrhunderthälfte, die vielleicht der Anlaß für die Bestätigung der Rechte war.

An der Ecke Dammstraße/ Leinstraße liegt im späten 13. Jh. das Grundstück "alt L 1", dessen Bebauung bis auf eine Latrine (oder einen Vorratskeller) nicht mehr zu erschließen ist. Das zugehörige Fundgut spricht für einen gewissen Wohlstand. Im 14. Jh. kommt es zu einer ersten baulichen Verdichtung: im Rückbereich von "alt L 1" werden ein Seitenflügel und ein Hinterhaus errichtet. Letzteres erscheint offenbar regelhaft bei domus-Grundstücken und diente als Scheune oder beherbergte das Brauhaus. Die Bebauung der Dammstraße ist noch nicht geschlossen: Sie weicht vor einem Brunnen zurück, der wegen seiner Lage in Straßennähe möglicherweise öffentlich war. Im Bereich der Köbelingerstraße hält sich mit K 38/39 offensichtlich bis in das 14. Jh. ein größeres Grundstück, das auch später nur zweigeteilt wird. Beide entstehende Teilgrundstücke haben domus-Rang. An dieser exponierten Stelle in der Nähe des Marktes lebten demnach wohlhabende Bewohner, dies bestätigt auch das Fundgut der zugehörigen Latrinen.

Dagegen wird das Eckgrundstück "alt L 1" - wie auch viele andere Eckgrundstücke in Hannover - wohl im späten 14. Jh. in mehrere kleine Mieteinheiten aufgeteilt. Sie sind Folge des Bevölkerungsdruckes der prosperierenden Stadt, der durch die Aufgabe der Vorstadt um die ehemalige Burg Lauenrode ab 1371 noch verstärkt wird und zu einer weiteren baulichen Verdichtung führt. Der letzte Gesamteigentümer ist im 15. Jh. der Werkmeister des Schneideramts, Hans Kone. Er bewohnt selbst wahrscheinlich den der Leinstraße zugewandten Teil des Anwesens, die Nebengebäude werden vermietet. Seine Erben teilen in der ersten Hälfte des 15. Jh. das Anwesen "alt L 1" nach den bestehenden Nebengebäuden auf und veräußern es.

Die Eigenständigkeit der Budenhaushalte erfordert die Anlage von Kellern, deshalb werden ab etwa 1400 halbtonnengewölbte Keller unter den Buden errichtet, spätestens im dritten Viertel des 15. Jh. kommen Flachtonnengewölbe auf. Auch über der ehemaligen Hofeinfahrt des Grundstückes K 47/48 entsteht 1469 eine Bude, diese Lage ist für Hannover typisch. Zuletzt wird am Beginn der Neuzeit der Bereich des ehemaligen Vorderhauses in mehrere Buden umgebaut. Der letzte Eigentümer und Bewohner des zur Leinstraße gehörigen ehemaligen Vorderhauses von "alt L 1" ist der wohlhabende Mauritius van Linden. Der intensiveren Nutzung entspricht eine Zunahme der Keramikfunde, beides dürfte das auch in den Schriftquellen erkennbare weitere Bevölkerungswachstum widerspiegeln. Von der Umgestaltung bleibt die städtische "Coldunenborch" ausgenommen, als Ausdruck des Wohlstandes der Mittelstadt Hannover entsteht 1541 dort ein prächtiger Fachwerkbau.

Die Ausgrabung belegt ein deutliches Sozialgefälle zwischen der großbürgerlichen Wohnlage in der Nähe des Rathauses und der vornehmlich von Handwerkern, vor allem Schneidern, und kleinen Kaufleuten bewohnten lutteken strate Dammstraße. Dagegen sind die Anrainer der Leinstraße offenbar bessergestellt, hier wohnen Kaufleute, Goldschmiede und wohlhabende Handwerker - ihren Wohlstand bezeugen das Fundgut einer Latrine und mehrfacher Grundbesitz.

Die mittelalterlichen Gebäude werden im Laufe der Neuzeit wiederholt umgestaltet, im Unterschied zu modernen Bauvorhaben sind Totalabbrüche bis in den Kellerbereich jedoch die Ausnahme: Ältere Bauteile werden den neuen Anforderungen entsprechend abgeändert, aber möglichst integriert. Erst ab dem 19. Jh. kommt es zu massiven Substanzverlusten, die nur den Bereich der Dammstr. 11-13 verschonen (vgl. Baualtersplan Beil. 8).

Für die Datierung der Baubefunde war die Erstellung einer Mauerwerkschronologie für Hannover erforderlich (Exkurs). Die mit Hilfe der so definierten Mauertypen I-IV und der Ziegelformate bzw. -höhen erhaltenen Datierungen bestätigen und ergänzen die über Fundvergesellschaftungen gewonnenen Zeitansätze. Die ältesten Befunde für Natursteinverwendung stammen aus dem 12. Jh. und sind von auffallender Qualität, gerade im Vergleich zu den jüngeren Mauertypen. Seit dem frühen 15. Jh. tritt die zuvor nur bei Kirchen und Fußböden belegte Ziegelbauweise hinzu: Backsteine sind zunächst auf den Massiv- und Gewölbebau beschränkt. Im Fundamentbereich der Fachwerkbauten wird das immer unsorgfältiger ausgeführte Naturstein- und Mischmauerwerk erst in der frühen Neuzeit vom Backstein ersetzt.

9.2. Die materielle Kultur

Vom (späten) 11. Jh. bis um 1200 bestimmt der Kugeltopf klar das keramische Haushaltsgeschirr am Bohlendamm. Es ist dennoch wahrscheinlich, daß zugleich und auch später Holz- und Metallgefäße, insbesondere für Schüsseln, Schalen, Deckel und Becher in Gebrauch waren, obwohl sie im Fundgut nicht enthalten sind. Bis zum späten 12. Jh. ist die Brandführung der Töpfe uneinheitlich, d.h. es gibt neben den grauen Töpfen der Warenarten b1 und b2 auch rotes bis oranges Geschirr der Warenarten a1 und a2 (Abb. 26). Diese ältere Kugeltopfkeramik wurde offenbar für den lokalen Bedarf im Raum Hannover gefertigt.

Schon in den ältesten Befunden ist gleichzeitig eine teils scheibengedrehte hellgrundige Irdenware vorhanden (Warenarten c1-c3). Sie steht in der Tradition der westeuropäischen rotbemalten Ware und wurde im Gegensatz zur älteren Kugeltopfkeramik im südniedersächsischen "Pottland" zwischen Hameln und Alfeld hergestellt. Die feinere Machart und der Importcharakter weisen sie in der Frühzeit als eine gehobene Ware aus, deren Formengut auf Tischgeschirr beschränkt zu sein scheint. Dies gilt auch für die nur in geringer Stückzahl belegte frühe, außen bleiglasierte Ware, die gemeinsam mit Warenart c3 bis weit in das späte Mittelalter in Gebrauch ist.

Ab dem späten 12. Jh. wird eine sorgfältig gebrannte, graue Irdenware (Warenart d1) in zunehmender Menge aus dem "Pottland" eingeführt, die in der Folgezeit das irdene Geschirr beherrscht. Im Laufe des 13. Jh. erweitert sich der Formenschatz beträchtlich: Kugeltöpfe und seit dem späten 13. Jh. Grapen stellen zwar weiterhin den Großteil des Geschirrs, sind aber offenbar in verschiedenen Größen und Proportionen - also auch für verschiedene Funktionen (Becher, Kochtopf, Vorratstopf) - in Gebrauch. Ihre meist langlebigen Randformen eignen sich trotz ihrer Vielfalt nur bedingt als Datierungsinstrument (Abb. 28). Während sich das ältere Schankgeschirr auf Topfbecher und Tüllenkannen beschränkte, treten nun Mehrpaßbecher und Einhenkelkrüge hinzu. Besonders diese Formen besitzen etwa ab der Jahrhundertmitte auch Stand- oder Wellenböden. Schüsseln und Schalen in verschiedenen Größen vervollständigen den gedeckten Tisch. Den wachsenden Wohnkomfort belegen im 14./15. Jh. eigenständige Kacheltypen, die sich aus älteren Topf- und Schüsselformen entwickelt haben.

Das wenig ansprechende Äußere dieser Warenart wird nur durch Riefen im Halsbereich und Bandhenkel belebt - beider Ausführung ist chronologisch empfindlich. So überrascht es nicht, daß ab der zweiten Hälfte des 13. Jh. die genannten Gefäßformen auch in einer qualitätvolleren, schwarzgrauen Ware gefertigt werden (Warenart d2). Ihre glänzende Oberfläche ahmt das geschätzte Metallgeschirr nach. Der Trend zu dünnwandigem, wasserdichten Geschirr gipfelt in steinzeugartigen, teils gesinterten Einzelstücken. Am Bohlendamm tritt die metallisch glänzende Variante vermehrt in jenen Latrinen auf, die wohlhabenden Haushalten zuzuordnen sind, sie ersetzt dort die "einfache" graue Irdenware. Somit dürfte sich die Relation dieser beiden Varianten als Indikator für Lebensstandard eignen.

Ebenfalls als südniedersächsischer Import erscheint seit dem späten 13. Jh. rot oder braun engobiertes Fast- und Frühsteinzeug (Warenarten e2-e4). Es ist auf Schank- und Trinkgeschirr beschränkt und bezieht sich deutlich auf rheinische Vorbilder. Steinzeug Siegburger Art (Warenart e1) aus dem Rheinland und in täuschender Imitation aus dem "Pottland" verdrängt ab dem 14. Jh. die Frühformen (Abb. 26). Diese offenbar teuren Warenarten sind nur in geringer Stückzahl belegt, sie konzentrieren sich jedoch in den besser situierten Wohnlagen. Auch ihr gehäuftes Vorkommen ist daher grundsätzlich als Wohlstandsanzeiger zu betrachten.

Parallel zu diesen Importwaren wird im Raum Hannover weiterhin graue Irdenware getöpfert: die Warenarten b2 und d3 folgen als "Landrassen" dem Formenkanon der südniedersächsischen Produktion - freilich in geringerer Menge - bis in das 15. Jh.

Im Laufe des 15. Jh. verändert sich der Geschmack: Erst vereinzelt, seit dem 16. Jh. deutlich, wird gegenüber der grauen, jüngeren Kugeltopfkeramik helltoniges Geschirr bevorzugt. Es ist dank seiner zunächst gelbe und grüne Bleiglasur nicht nur ästhetisch, sondern auch praktisch der einfachen grauen Irdenware überlegen. Diese wird offenbar bis in das 16./17. Jh. gefertigt, beschränkt auf einzelne Schüsseln und Töpfe. Wahrscheinlich entwickelte sich die Hafnerware aus den älteren helltonigen Produkten (Warenart c3 und frühe, glasierte Ware). Zugleich vollzieht sich der technologische Übergang von der älteren Mischfertigung der Kugeltöpfe zur vollendeten Drehscheibenware. Seit dem 16. Jh. dominiert die Produktion des "Pottlandes" klar den gesamten niedersächsischen Raum, ihre Spitzenformen, die Werra- und Weserware werden europaweit geschätzt.

Die übrigen Funde belegen die Existenz von "Altdeutschen Schlössern" bereits vor dem späten 12. Jh. und den Gebrauch der bekannten Glas- und Schuhformen des späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit auch in Hannover.

Die dargelegte Entwicklung des Alltagsgutes konnte auf der Grabung Bohlendamm sowohl anhand der Grabungsbefunde als auch der Fundvergesellschaftung nachgewiesen werden.

9.3. Perspektiven für die Stadtkernforschung

Die Ergebnisse machen es wahrscheinlich, daß im Straßenraum des heutigen Bohlendamms und des Wilhelm-Kopf-Platzes noch Reste des frühstädtischen Großgrundstückes verborgen liegen dürften, dies könnte grundsätzlich auch für die übrigen Standorte von Steinwerken, insbesondere der peripheren, zutreffen (Abb. 4). Im Fundament- und Kellerbereich frühneuzeitlicher Bauten ist - wenn auch rudimentär - mit der Erhaltung mittelalterlicher Bausubstanz zu rechnen. Insbesondere der untere Bereich der Traufwände sollte deshalb bei Stadtkerngrabungen besondere Beachtung erfahren.

Es zeigte sich ein weitgehender Gleichklang archäologischer Befunde und der Erwähnungsabfolge in den Haus- und Verlassungsbüchern. Deshalb ist die Auswertung dieser Quelle im Hinblick auf die spätmittelalterliche Grundstücksentwicklung ein Desiderat. Für Rückschlüsse auf ältere Siedlungszustände ist sie jedoch nicht aussagekräftig. Dies gilt auch für die Auswertung des Urkatasters, die offenbar nur bis zur Zäsur im 13. Jh. vordringen kann.

Die Keramikforschung im südniedersächsischen Raum bedarf einer neuen Basis: Die bisher in der Region angestrebte Differenzierung in Unterwarenarten und Varianten ist typenkundlich, chronologisch und nicht zuletzt kulturell wenig aussagekräftig. Hier könnte dem umfangreichen Material der Ausgrabungen von Braunschweig, Höxter, sowie den Pfalzen Pöhlde und Werla eine Schlüsselrolle zukommen: Nur die Kombination archäologischer Befundinterpretation mit archäometrischer Materialanalyse und historischer Forschung werden ein neues Licht auf die Alltagskultur des Mittelalters werfen.

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