mittelalterarchaeologie.de (jpg)
zur homepage Rainer Atzbach, Die mittelalterlichen Funde und Befunde der Ausgrabung Hannover-Bohlendamm

zur Inhaltsangabe

8. Die Funde

8.2. Stratigraphie und Warenarten als Weg zur relativen Chronologie: Die Horizonte

8.2. Stratigraphie und Warenarten als Weg zur relativen Chronologie: Die Horizonte

Die Bedeutung der relativen Chronologie

Um die Auswertung der Grabung Hannover-Bohlendamm von Vorprägungen durch die Forschungslage freizuhalten, die eine unabhängige Sicht auf die Quelle verstellen könnten, empfahl es sich, eine autochthone relative Chronologie zu entwickeln. Dies war allein anhand der stratigraphischen Abfolge der Befunde nicht möglich, da zwischen den großen "stratigraphischen Blöcken" der Südfläche (Hofzone IR 15-17, Hofzone 18, Hofzone 4/5/27, Grube H, Latrine II-44, siehe Beil. 1) sowie den beiden Befundbereichen der Nordfläche (Ost und West, siehe Abb. 9) keine durchlaufenden Kulturschichten existieren. Daher wurde die Vergesellschaftung der ermittelten Keramikwarenarten in den Befunden als Datierungsinstrument mit herangezogen, das ein wertvolles Bindeglied zwischen den "stratigraphischen Blöcken" abgab.

Definition der Horizonte nach der Fundvergesellschaftung

Die zahlenmäßig stärksten Warenarten b1, b2, d1, d2 und die Hafnerware folgen nach Ausweis der Stratigraphie der Grabung grob gesprochen aufeinander. Daher werden sie zur relativchronologischen Gliederung der Funde und Befunde in Horizonte benutzt. Bei den vorliegenden Befunden handelt es sich fast durchgehend um Planierschichten oder Füllschichten, d.h. die in ihnen enthaltenenen Funde gelangten in unbekannter Frist in die "offenstehende" Schicht, bis sie überdeckt wurde. Im Unterschied zu einem "geschlossenen Fund", also z.B. einem Grab, ist die Vergesellschaftung der Funde einer solchen Schicht nur bedingt Spiegel des zeitgenössischen Gebrauchsgutes, da auch verlagerte Altfunde in sie gelangt sein können. Korrektiv dieser beiden Störfaktoren ist der Regelbefund; für die folgenden Betrachtungen soll deshalb das Axiom gelten: Je öfter in größerer Stückzahl Scherben zweier Warenarten miteinander in einer Schicht auftreten, umso wahrscheinlicher ist ihr zeitgenössischer Gebrauch. Ein weiterer Anhaltspunkt für die Laufzeiten der Warenarten ist die Verteilung der Randformen (Abb. 22). Sie zeigt Überschneidungen der Warenarten b1/b2 (RF 1-13), b2/d1 (bes. RF 11-15) und d1/d2 (RF 11-25). Die Horizonte sollen durch die jeweils enthaltene jüngste Warenart definiert werden (Vgl. als Materialgrundlage Kap. 13).

Die Warenarten a1 und a2 treten fast nur in Vergesellschaftung mit den Warenarten b auf, scheiden deshalb als Unterscheidungsmerkmal aus. Obwohl Warenart b1 zahlreiche Vertreter aufweist und auch ein engeres Randformenspektrum (RF 1-9) als b2 zeigt, läßt sie sich in der Stratigraphie der Grabung Hannover-Bohlendamm nicht klar von b2 differenzieren, lediglich im Planumabtrag 181-III/IV und in den beiden Befunden I-181.4.2/.3 der Hofzone IR XVIII tritt sie in signifikanter Anzahl und ohne Vergesellschaftung mit jüngeren Warenarten auf. Deshalb umfasse Horizont A alle Befunde, in denen Warenart b1 oder b2 ohne die betreffenden jüngeren Warenarten auftreten. Horizont B bezeichne alle Befunde, in denen Warenart d1 auftritt, Horizont C jene Befunde, in denen Warenart d2 auftritt. Das Auftreten von geflämmtem Steinzeug Siegburger Art (Warenart e1) definiere Horizont D. Das Aufkommen der Hafnerware kennzeichne Horizont E. Dazu kommen zwei stratigraphisch klar abgrenzbare Sonderfälle: Jene Mischphase, in der Warenart b2 überwiegt, aber d1 bereits auftritt, sei Horizont A/B bezeichnet, zusätzlich sei Horizont F für jene Befunde eingeführt, die ausschließlich Hafnerware enthalten.

Alle fundführenden Schichten lassen sich nach diesem Schema einem Horizont zuweisen (Abb. 8), wobei hier jene Schichten besonders kritisch zu betrachten sind, die weniger als vier Scherben enthalten (Spalte "Hor." in Bd. 2, Kap. 13; Fehler der kleinen Zahl, gekennzeichnet mit "?"). Die Abfolge dieser "synthetischen" Horizonte A-F deckt sich weitestgehend mit der "natürlichen" Schichtfolge. Bei der Datierung eines Befundes hat seine stratigraphische Lage Vorrang vor seinem Keramikinventar, d.h. liegt ein Befund eines älteren Horizontes über einem jüngeren Befund, so ist er offenbar verlagert worden und wird grundsätzlich in den jüngeren Horizont datiert. In der schematischen Darstellung der Schichtenfolge wurden diese verlagerten Befunde mit der Angabe ihres mutmaßlichen Herkunftshorizontes, z.B. (A), gekennzeichnet (Abb. 8).

Im IR 18 folgen Befunde des älteren Horizonts (A) auf jüngere des Horizonts A/B, ebenso liegen in der Verfüllung des großen Grabens in IR 27 mehrere Schichten Horizont (C) über den jüngeren des Horizonts D. Auf die siedlungskundliche Interpretation wurde bereits eingegangen.

Wechselseitige Datierung der Warenarten und Horizonte

Die so definierten Horizonte lassen sich anhand der in den vorstehenden Kapiteln begründeten Datierungen der Warenarten zeitlich eingrenzen: Horizont A umfaßt die ältere Kugeltopfkeramik, die vorgestellten Randformen gehören in das 11. bis späte 12. Jh., wobei ihre durchgehende Gestaltung mit dem Formholz die Untergrenze in das späte 11. Jh. schiebt. Horizont A/B bezeichnet die Übergangsphase zwischen älterer und jüngerer Kugeltopfkeramik (Warenarten a/b zu d), diese reicht vom späten 12. Jh. bis in die zweite Hälfte des 13. Jh., das Gros der Befunde dieses Horizonts steht jedoch mit dem Bau des Steinwerks und der Anlage des großen Grabens in Zusammenhang, die in die Zeit um 1200 (bis frühes 13. Jh.) gehören.

Zu Horizont B gehören keine stratifizierten Befunde. Die zugehörigen Fundkomplexe enthalten nur auffallend wenige Funde, es ist daher wahrscheinlich, daß Warenart d1 nie ausschließlich in Gebrauch war, sondern stets mit der älteren Warenart b2 oder der jüngeren Warenart d2 einherging. Diese Vermutung wird von den sich überlappenden Laufzeiten der betreffenden Warenarten unterstützt. Die unter Horizont B zusammengefaßten Komplexe enthielten deshalb eher zufällig keine Vertreter anderer grauer Warenarten und sind nicht als gesonderte Zeitstufe zu betrachten.

Die entwickelte jüngere Kugeltopfkeramik Warenart d2 tritt nach der Mitte des 13. Jh. auf und beherrscht das späte Mittelalter, sie liefert somit das Anfangsdatum für Horizont C. Sicherer ist Horizont D mit dem Auftreten des entwickelten, geflämmten Siegburger Steinzeugs/ Steinzeug Siegburger Art im fortgeschrittenen 14. Jh. ansetzbar. Grundsätzlich gibt es eine Überschneidungszone der Horizonte C und D: Da das Siegburger Steinzeug nur in geringer Stückzahl (34 Scherben) vorliegt, mögen durchaus Befunde des Horizonts C auch aus dem frühen 14. Jh. stammen, die "nur zufällig" diese Leitform des Horizonts D nicht enthalten. Horizont E liegt im Grenzbereich zwischen mittelalterlicher Irdenware und bleiglasierter Hafnerware, ihr vereinzeltes Auftreten gehört in das 15. Jh. Genauer ist dagegen Horizont F zu datieren, er wird von der Hafnerware klar dominiert und ist deshalb neuzeitlich (nach 1500).

Auch die Betrachtung dieser Keramikhorizonte bestätigt die Laufzeiten der Warenarten, die sich bereits anhand ihrer Einordnung in den Einzelbefunden abzeichnete. Zunächst ist festzustellen, daß sich die wahrscheinlich verlagerten Fundinventare gut in das Bild ihrer mutmaßlichen Herkunftshorizonte einfügen (Abb. 25,a, die betreffenden Inventare sind gemäß ihrer tatsächlichen Schichtzugehörigkeit summiert, diese ist in Klammern angegeben). Daher können sie mit jenen ihres Herkunftshorizontes zusammengefaßt werden (Abb. 25,b). Dementsprechend erscheint Warenart a1 in nennenswerter Stückzahl nur in den Horizonten A und A/B, die vereinzelten jüngeren Belege sind wohl als Altstücke oder verlagerte Scherben zu bewerten, sie kommt also um 1200 außer Gebrauch. Warenart a2 ist zwar in Horizont A mit einer Scherbe vertreten, das Gros stammt jedoch aus Horizont A/B, wo dementsprechend die "Blütezeit" dieser Warenart zu vermuten ist, also etwa auch um 1200. Dieser Zeitansatz konnte bei der Betrachtung der Einzelbefunde auf das späte 12. Jh. präzisiert werden.

Warenart b1 erscheint in Horizont A und ist in noch größerer Stückzahl in Horizont A/B vorhanden, angesichts dieser Häufung sind ihre jüngeren Vertreter eher als Altstücke zu bewerten und ihr Ende im frühen 13. Jh. zu vermuten. Warenart b2 dagegen erscheint zwar ebenfalls in Horizont A, ihr Schwerpunkt liegt klar in Horizont A/B, aber sie ist in signifikanter Stückzahl noch in Horizont C und weniger deutlich bis Horizont E belegt. Hier sei nochmals auf die enge Verwandtschaft mit Warenart d3 verwiesen, deren Großteil aus Horizont C stammt. Es handelt sich bei diesen beiden formal und technologisch eng verwandten Warenarten um eine lokale Ausprägung der jüngeren Kugeltopfkeramik, die dementsprechend bis mindestens in das 14. Jh. in Hannover produziert und benutzt wurde.

Die pingsdorfartig bemalten Warenarten c1-3 treten alle in Horizont A erstmals auf, Warenart c1 hat ihr Maximum in Horizont A/B, die jüngeren Vorkommen sind nur Streubelege, dies spricht für eine Laufzeit bis um 1200. Warenart c2 ist zu gering vertreten, und eine Laufzeit bis in das 14. Jh. muß Vermutung bleiben. Warenart c3 dagegen ist in Horizont E am stärksten belegt, so daß sie bis in das 15. Jh. laufen könnte.

Warenart d1 erscheint definitionsgemäß in Horizont A/B und läuft deutlich in zunehmender Stückzahl bis Horizont E, also von der Zeit um 1200 bis in das späte Mittelalter. Die eng verwandte Warenart d2 tritt definitionsgemäß in Horizont C auf, hält sich aber ebenfalls bis in Horizont E, also vom späten 13. Jh. bis zum Ende des Mittelalters. Steinzeug Siegburger Art (Warenart e1) ist in den Horizonten D und E belegt. Früher treten dagegen die Faststeinzeuge Warenart e2 und e3 auf, sie sind bereits in Horizont C, also seit dem späten 13. Jh. vorhanden. Die Hafnerware bildet das Bindeglied zwischen der spätmittelalterlichen Phase Horizont E und der neuzeitlichen Phase Horizont F und dürfte im 15. Jh. einsetzen.

Die enge zeitliche Verknüpfung des Endes der hellen Warenart c3 sowie der frühen glasierten Waren mit dem Anfang der bleiglasierten hellen Hafnerware dürfte auf einen Zusammenhang hindeuten, der für andere helltonige Waren bereits nachgewiesen wurde[228]. Dieser ist freilich nur anhand stratigraphisch gesicherter Fundkomplexe, vor allem an den Produktionsorten, näher zu bestimmen. Die Laufzeiten der Warenarten sind in einem Diagramm zusammengestellt (Abb. 26).

Datierung der Randformen mit Hilfe der Horizonte

Grundsätzlich ist es auch möglich, die Randformen über die "synthetischen" Horizonte zu datieren. Das Ergebnis entspricht allerdings weitestgehend den bereits oben vorgestellten Einzeldatierungen (Abb. 27): Grundsätzlich zeichnet sich eine ältere Gruppe der "einfachen Ränder" (RF 1-9) ab, der eine langlebige der Lippenränder und innen gekehlten Ränder gegenübersteht (RF 11-15). Die Randformen RF 16-57 sind nur in geringer Stückzahl stratifiziert, so daß für sie keine verläßlichen Aussagen möglich sind, die über das oben geschilderte hinausgehen. Die Datierungen sind in einem Diagramm dargestellt; sofern sich im übrigen Südniedersachsen abweichende Laufzeiten ergeben, sind diese eingetragen, solche Verschiebungen gehen im wesentlichen auf den geringeren Fundumfang und den späteren Siedlungsbeginn am Bohlendamm zurück (Abb. 28).

Weitere Interpretationsmöglichkeiten

Die Betrachtung des Anteils der Keramikfunde in den Zeithorizonten (Abb. 25,b) könnte die Mengenentwicklung des historischen Geschirrs widerspiegeln. Hier ist allerdings eine Verzerrung zu berücksichtigen: der Großteil der Befunde stammt etwa aus der ersten Hälfte des 13. Jh. (Hor. A/B, vgl. Abb. 8), während rein zahlenmäßig die jüngeren Befunde deutlich zurücktreten - weil die oberen, jüngsten Schichten am Bohlendamm nicht mehr erhalten waren. Besonders augenfällig ist der Sprung von Horizont A (7,7%) zu A/B (27,8 %): Vom Beginn der Besiedlung des Stadtgebietes bis etwa 1180 hat sich am Bohlendamm weniger Keramik abgelagert als von etwa 1180 bis 1250! Diese Materialzunahme ist nicht anders zu bewerten denn als Ausdruck einer intensivierten Siedlungstätigkeit. Trotz der schlechten Erhaltungsbedingungen für die oberen Schichten sind in den 17 erfaßten Befunden des endmittelalterlichen Horizonts E mehr Scherben enthalten (30,3 %) als in den 33 Befunden des Horizonts A/B (27,8 %). Diese mengenmäßige Zunahme dürfte in direktem Zusammenhang mit der Bevölkerungsentwicklung stehen.

Die Mengenanteile der vorgestellten Warenarten zeigen ein klares Übergewicht der grauen Irdenwaren (b2 und d) gegenüber den übrigen; insbesondere die helltonigen Irdenwaren und das Fast-/Frühsteinzeug (Warenart e2/e3) treten klar zurück (Abb. 29 und Abb. 30, Diagramm). W. Janssen erkannte am Vergleich des Fundgutes der Burg Hausfreden und des Dorfes Königshagen, daß gehäufte Vorkommen von (Fast-)Steinzeug offensichtlich als Indikator für gehobenen Lebensstandard zu betrachten sind[229]. Die geringe Gesamtstückzahl der mittelalterlichen Steinzeuge am Bohlendamm wäre somit ein Anzeichen für eine weniger wohlhabende Einwohnergruppe. Dieses Bild läßt sich durch eine gezielte Betrachtung präzisieren:

Vergleicht man die Inventare der Latrinen III-11, III-17 und II-44 mit jenen der übrigen zeitgleichen Befunde (Hor. C-E), so ist ein bemerkenswerter Unterschied festzustellen: Die Latrinen enthalten einen deutlich höheren Anteil an Faststeinzeug und Steinzeug Siegburger Art als die übrigen Befunde derselben Zeitstellung (vgl. Abb. 31, Graphik 1und 2). Siegburger Steinzeug war - wegen des hohen Brennholzbedarfes und des erheblichen Ausschusses - kostspieliger als Irdenware[230]. Sein gehäuftes Vorkommen ist damit ein Indikator für Wohlstand. Zugleich zeigen die betreffenden Latrinen aber auch einen deutlich erhöhten Anteil der metallisch glänzenden Warenart d2 - auf Kosten der Warenart d1. Wahrscheinlich war auch diese qualitätvollere Variante der grauen Irdenware (härterer Brand, sorgfältigere Fertigung) eher teurer als die "gewöhnliche" Warenart d1. Demnach ist ihr gehäuftes Auftreten offenbar ebenfalls als Sozialindikator geeignet. Somit zeugen die Inventare dieser Latrinen von gehobenem Lebensstandard der zugehörigen Haushalte an der Köbelinger- bzw. Leinstraße. Auch die ältere Grube H enthält einen erhöhten Anteil Warenart d2 (siehe Abb. 30, Tabelle), darunter zwei vollständige Gefäße, dies könnte dementsprechend einen gewissen Wohlstand des zugehörigen Anwesens "alt L 1" widerspiegeln.

 

zum Seitenanfang