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zur Inhaltsangabe

2. Zur Stadtgeschichte Hannovers:

2.1. Topographie und Geschichte

2.2. Die Forschungsgeschichte: Deutungsversuche

2. Zur Stadtgeschichte Hannovers

2.1. Topographie und Geschichte

Hannover liegt am Übergang der Mittelgebirgsschwelle in das Norddeutsche Tiefland. Im Süden erstreckt sich das schon in der Vorgeschichte besiedelte Lößgebiet des Deistervorlandes, im Norden und Nordosten dagegen die unfruchtbare Moorgeest, die bis in das späte Mittelalter nicht kultiviert wurde. Im historischen Stadtgebiet wird die Leine durch die Niederterrasse im Westen und eiszeitliche Dünenhügel im Osten eingeengt, hier eröffnete sich mögli­cherweise über eine Furt ein Weg nach Westen (Minden-Osnabrück), doch war die auf dem rechten Ufer verlaufende alte Nord-Süd-Straße (Bremen-Hildesheim) ungleich bedeutender für das Werden der Stadt und prägte ihren Grundriß. Der höchste Punkt der Stadt ist der Marktplatz, er liegt ca. 10 m oberhalb der Leineniederung (Abb. 1,1)[2].

Obwohl aus der Römischen Kaiserzeit (1.-3. Jh. n. Chr.) Streufunde aus dem Stadtgebiet vorliegen[3], begann die eigentliche Besiedlung Hannovers erst im hohen Mittelalter: Für die Forschungsgeschichte bedeutsam ist eine Beschreibung des gemeinsamen Grenzver­laufes der Bistümer Minden und Hildesheim aus dem späten 10. Jh. Sie erwähnt den sonst nicht bezeugten Ort Tigiflege/ Tigislehe an der Leine [4]. Dieser Ort wird als Tigislege in oder bei Hannover gesucht (vgl. das folgende Kapitel). Die älteste direkte Erwähnung stammt aus den Miracula Sancti Bernwardi, die Heilung eines augenkranken Mädchens aus dem vicus Hanovere. Die Aufzeichnung entstand im späten 12. Jh., geht aber auf eine ältere Überlieferung zurück. Mit der frühen Siedlung in Verbindung gebracht wird die Erwähnung eines Ortes Hanabruinborg/ Habrunniborg in der Beschreibung der Pilgerfahrt eines isländischen Abtes nach Rom von 1155-1159/60[5].

Seit der zweiten Hälfte des 12. Jh. werden die Aussagen zum frühen Siedlungswesen weniger nebulös: 1163 urkundete Heinrich der Löwe anläßlich seines Hoftages in Hanovere, für den also offenbar bauliche Voraussetzungen vorhanden waren. 1189 wurde civitas Hanovere von König Heinrich VI. in Brand gesteckt. 1202 fiel Honovir oppidum im Zuge der welfischen Erbteilung an Pfalzgraf Heinrich[6]. Im 13. Jh. werden bereits Elemente der Stadt faßbar (vgl. Abb. 1,2): Die im Werdergebiet der Leine gelegene herzogliche Burg Lauenrode ist 1215 erstmals bezeugt. 1238 wurde die Marktkirche St. Georg erwähnt[7].

1241 bestätigte Otto das Kind, Herzog von Braunschweig-Lüneburg, Hannovers Privilegien und das Stadtrecht. In dieser Urkunde werden zugleich die Kapelle St. Galli auf der Burg Lauenrode und die Ägidienkirche im Süden der Stadt erstmals genannt. Die Vorschrift munitio inter castrum et civitatem sic manebit deutet auf beabsichtigte Baumaßnahmen an einer älteren Stadtbefestigung. Die aus dem Kataster bekannte Stadtmauer entstand ab Mitte des 13. Jh. mit herzoglicher Genehmigung und wurde im 14. Jh. fertiggestellt. Die Stadt riß schließlich 1314/15 mehrere casae aus adligem Besitz auf dem Santforde ein, um offenbar ein freies Vor­feld zu erhalten[8]. Ab 1301 ist mit dem Bürgerbuch der Stadt eine hervorragende Quelle erhalten, 1303 wird die Unterteilung der Stadt in die vier Stadtbezirke Osterstraße, Marktstraße, Köbe­lingerstraße und Leinstraße erstmals genannt, die bis zum 19. Jh. erhalten blieb (Abb. 2,1)[9]. In der zweiten Hälfte des 14. Jh. begann die mittelalterliche Blütezeit der Stadt: 1368 wurde Hannover Mitglied der Hanse. 1371 erlangte und zerstörte die Bürgerschaft nach erfolgreicher Parteinahme zugunsten der Askanier im Lüneburger Erbfolgestreit die Burg Lauenrode. Die nun ungeschützte landesherrliche Vorstadt im Werdergebiet wurde auch auf Betreiben des Rates aufgegeben, somit hatte die Stadt ihre weitgehende Autonomie durchgesetzt. Der Rat betrieb im 15. Jh. eine aktive Zuzugspolitik: Neubürger wurden mit Steuervergünstigungen gewonnen, innerstädtischer Wohnraum durch Baugebote erschlossen[10].

1428 setzt das älteste erhaltene "Haus- und Verlassungsbuch" ein. Dieses Grundbuch der Stadt Hannover verzeichnet die Namen der Eigentümer und Angaben über Haus und Grund. Es unterscheidet in domus-Grundstücke, zu denen meist auch die Braugerechtigkeit gehört, und minderberechtigte Buden, bei denen es sich entweder um kleine Häuser oder um eigenrechtli­che Wohnungen in den domus-Häusern handelt. Die domus-Grundstücke sind die Wohnstätten der Vollbürger, die Buden werden dagegen an weniger bemittelte Einwohner vermietet, die nicht unbedingt Bürger sein müssen[11].

Den Höhepunkt der Blütezeit in der ersten Hälfte des 15. Jh. markiert der prächtige Neubau des Rathauses. Das Wachstum Hannovers zu einer Stadt mit etwa 6000 Einwohnern ging zu Lasten der ländlichen Bevölkerungsentwicklung: 1350-1500 erfaßt eine Wüstungswelle zahlreiche Dörfer im Umland[12]. Eine Ursache des wirtschaftlichen Erfolges ist die Brauerei: 1526 wurde Hannover mit der Entwicklung eines lager- und transportfähigen Bieres durch Cord Broyhan zu einem der größten Bierexporteure des Mittelalters.

1532/33 trat Hannover zum protestantischen Glauben über. Im 16. Jh. beginnt der Niedergang der Stadt, er ist eng verknüpft mit der erstarkenden Lan­desherrschaft: Formell endete die weitgehende Unabhängigkeit 1636, als Herzog Georg von Calenberg-Göttingen seine Residenz nach Hannover verlegte. 1689 entstand eine umfangreiche Kopfsteuerbeschreibung, die im Sinne des modernen Staatsfinanzwesens die Grundstücke der Hauptstadt nach ihren Stadtvierteln numerierte, die sog. Schoßnummern[13]. Die herzogliche Residenz bestimmt in der Folgezeit Gestalt, Geschichte und Gesellschaft Hannovers.

 

2.2. Die Forschungsgeschichte: Deutungsversuche

Die kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit Hannovers begann 1740 mit der vom Geiste der Aufklärung geprägten Chronik "Origines et Antiquitates Hanoverenses" von C.U. Grupen. Er erkannte - der mittelalterlichen Überlieferung folgend - Heinrich den Löwen als Förderer der Stadt, vermutete aber - auch mit Verweis auf Bodenfunde - einen weit älteren Ursprung der Stadt. Als ältesten Siedlungskern betrachtete er neben der Burg Lauenrode den St. Gallenhof und die im späten Mittelalter zerstörten casae nördlich der Stadtmauer, die er als alten Stapelplatz ansprach (Abb. 1,2 und 2,2)[14].

In den Chroniken bis zur Mitte des 19. Jh. wurde die Stadtgründung auf ein Grafenge­schlecht, vornehmlich die von Roden, zurückgeführt und demgemäß in der Burg Lauenrode die Gründungssiedlung vermutet[15]. H. Böttger übertrug 1863 die Bedeutung Hannovers im zeit­genössischen Verkehrsnetz auf das Mittelalter und konstruierte einen Schnittpunkt von sechs Fernstraßen, u.a. eine Ost-West-Verbindung mit Leineübergang im Bereich der Roßmühle, der zur Gründung Hannovers geführt hätte. Er lokalisierte anhand spätmittelalterlicher Straßennamen ("vicus") zwei ältere Dörfer, die gemeinsam mit der am Leineübergang errichteten Burg Lauenrode Ausgangspunkt der Besiedlung gewesen wären (Abb. 2,2)[16]. H. Schmidt und O. Jürgens wendeten sich 1896/97 mit Verweis auf die größere Bedeutung der Nord-Süd-Rich­tung für die Straßengestalt Hannovers gegen die Existenz einer Ost-West-Straße[17].

C. Schuchhardt erschloß 1903 aus Vergleichen des St. Gallenhofes mit 21 historischen und vermeintlichen karolingischen curtes den Ursprung der Stadt aus einem karolingischen Wirtschaftshof. Burg Lauenrode diente zum Schutz des Hofes[18]. A. Riemer erweiterte 1909 die Ausdehnung dieser Keimzelle des 9. Jh. über das gesamte Gebiet von Burg- bis Knochenhauerstraße, von der Ballhof- bis zur Kramerstraße (Abb. 3,1). Er nahm die Idee des Verkehrsknotenpunktes wieder auf und schlug zudem einen zweiten Kern aus dem 10. Jh. im Bereich des Marktplatzes als Handelsort vor. Burg Lauenrode wäre erst nach 1189 errichtet worden[19].

Der Stadtarchivdirektor K.F. Leonhardt widmete sich ab 1924 der Edition des spätmittelal­terlichen Haus- und Verlassungsbuches, er ordnete dessen Eintragungen nach der neuzeitlichen Schoßnumerierung. Auf seine Auswertung gestützt, dehnte er bis 1927 die vermuteten Sied­lungskerne weiter aus: zum karolingischen Wirtschaftshof zählte er die im späten Mittelalter an der westlichen Burgstraße vereinzelt bezeugten Lehnsgrundstücke. Der "Königshof" füllte nun die Nordwestecke der Stadt (Abb. 3,1). Anlaß für die Gründung wäre eine Straßenkreuzung mit Flußübergang im Bereich der casae gewesen, namengebend die Lage am "hohen Ufer" der Leine. Seit dem 10. Jh. hätte sich zudem eine Marktsiedlung entwickelt, die er nördlich des Marktplatzes lokalisierte. Im 12. Jh. entstand die Burg Lauenrode zum Schutz dieser Siedlungen und der Furt. Aus der Erwähnung der Aegidienkirche in der Stadtrechtsurkunde von 1241 und der Breite der südlichen Osterstraße folgerte er die Existenz einer weiteren Siedlung im Südosten der Stadt, die bis 1241 mit der Marktsiedlung zusammengewachsen wäre[20].

Stadtvermessungsdirektor P. Siedentopf legte 1928 den "Gründungsplan" der Stadt vor, den er aus Katasterplänen des 18. und 19. Jh. rekonstruiert hatte[21]. Dieser Plan diente K.F. Leonhardt zur Verfeinerung seiner Thesen. Die südliche Siedlung um die Aegidienkirche identifizierte er nun mit dem Tigislege der Bistümer-Grenzbeschreibung[22]. A. Nöldeke stellte 1932 die Kunstdenkmale der Stadt Hannover vor. Er gab eine Übersicht über die haus- und siedlungskundliche Entwicklung der Stadt, letztere gemäß K.F. Leonhardts Entstehungstheorie[23]. J. Studtmann legte 1941 eine Abhandlung über die Geschichte Hanno­vers unter historischen, volkskundlichen und geographischen Aspekten vor. Ferner ermittelte er aus den Urkatasterunterlagen die zur Schoßnumerierung der Kopfsteuerbeschreibung gehö­rigen Grundstücksgrenzen (Abb. 4). In demselben Jahr erschien die Abhandlung von E. Goehrtz über das Bürgerhaus im Raum Hannover[24]. Hiermit war die Theoriebildung abgeschlossen. Hannover wurde im Zweiten Weltkrieg stark zerstört, besonders die Luftangriffe des Jahres 1943 legten beträchtliche Teile der historischen Altstadt in Schutt und Asche - darunter auch die Dammstraße.

Der Historiker H. Plath, Direktor des Niedersächsischen Heimatmuseums Hannover, eröffnete der Forschung neue Wege: Von 1947 bis 1961 führte er im Vorfeld des Wiederaufbaus 80 meist kleinräumige Ausgrabungen und Baustellenuntersuchungen durch (Abb. 3,2). Die Resultate legte er in mehreren Aufsätzen vor[25]. H. Plath hielt die Stadtentstehungstheorie für bestätigt, er modifizierte anhand seiner Grabungsergebnisse lediglich die Abfolge: "Tigislege" 10. Jh., "Lehnshofsiedlung" (evtl. mit Burg Lauenrode) 10./11. Jh., "Marktsiedlung" frühes 12. Jh., Vereinigung zu einer Gesamtgemeinde im 12. Jh., Anlage der Burg Lauenrode im 13. Jh. Die Entstehung der historischen Grundstücksgrenzen datierte er in das 12./13. Jh., die älteste Stadtbefestigung, eine Wall-Graben-Anlage, würde aus dem späten 12. Jh. stammen. Da im 10./11. Jh. die Billunger Inhaber der Grafenrechte im Marstemgau waren, betrachtete er sie gemeinsam mit den Vorfahren der Grafen von Roden als Gründungsherren der frühen Siedlungen.

Damit galt die Stadtentstehung und die Grundstücksentwicklung als erforscht, der Baudruck der hochtechnisierten Stadtumgestaltung wuchs, deshalb wurde 1961 die Grabungstätigkeit in der ehemaligen Altstadt fast eingestellt - bis 1981 wurden nur drei Baustellenbeobachtungen durchgeführt. Insgesamt erfaßten die archäologischen Untersuchungen eine Fläche von 2300 m2, dies entspricht 0,32 % der historischen Altstadt[26].

Die Phase der interdisziplinären Forschung, die gezielte archäologische und historische Untersuchungen zur Erhellung der städtischen Vergangenheit koordiniert, fand in Hannover - etwa im Unterschied zu Braunschweig, Lübeck oder Duisburg - nicht statt. Die spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Stadt stieß bei archäologischer Seite auf kein Interesse und blieb ein Gegenstand der historischen Forschung[27]. 1982-87 führte das Niedersächsische Institut für Denkmalpflege am Bohlendamm die voraussichtlich letzte Flächengrabung in Hannover durch, sie umfaßt mit ca. 1000 m2 etwa ein Drittel der bisher erforschten Altstadtfläche. 1984 untersuchte M. Schormann die Besitzergeschichte der historischen Dammstraße im Rahmen einer Magisterarbeit. 1989 fand eine bauhistorische Untersuchung unter der Marktkirche statt, die H. Plaths Ergebnisse zu deren Baugeschichte ergänzen konnte.

1992 legte A. Büscher ihre Dissertation über die mittelalterliche Keramik von Hannover vor, die 1996 im Druck erschien[28]. Sie wertete hierzu die frühen Schriftquellen sowie die Untersuchungen von H. Plath neu aus und wies die hergebrachten Theorien zur Stadtentstehung zurück: "Tigislege" könnte keineswegs sicher mit Hannover identifiziert werden, H. Plaths Forschungen wären zudem von den älteren Stadtentstehungstheorien zu stark vorgeprägt gewesen. Die meist sehr kleinräumi­gen und von Laien durchgeführten Untersuchungen ließen sich nicht im oben dargelegten Maße verallgemeinern. Zudem ergab die Neudatierung seines Fundmaterials, daß offenbar im gesamten Stadtgebiet - also nicht nur in den "Siedlungskernen" - Keramik des 10./11. Jh. verbreitet ist.

 

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