Vom Nutzen und Nachteil der Archäologie

(Dr. Rainer Atzbach M.A. / Erstpublikation Archäologisches Nachrichtenblatt 3/1, 1998, 3-5)

Im Unterschied zu Naturwissenschaftlern, Soziologen und Juristen steht der Archäologe (und selbstverständlich auch die Archäologin) stetig unter Rechtfertigungsdruck: wozu ist eine Wissenschaft gut, aus der sich kein praktischer Nutzen für die Alltagsgestaltung und Bewältigung der heutigen Probleme ziehen läßt, die aber nicht unerhebliche Kosten verursachen kann? Damit befindet sich die Archäologie in derselben Situation wie die übrigen Geistes- und Kulturwissenschaften. Sie alle sind auf wohlwollende Förderung aus öffentlichen Mitteln angewiesen, wobei dies selbstverständlich Interesse in der Öffentlichkeit voraussetzt und erfordert. Bereits jede studentische Grabungsleiterin kennt deshalb die Standardantwort auf die Frage nach dem Nutzen unserer Wissenschaft: die Archäologie bemüht sich - teils als Hilfswissenschaft der Geschichte, teils als Hauptwissenschaft für die Epochen mit geringer schriftlicher Überlieferung -, Erkenntnisse über eine vergangene Welt zu gewinnen. Dabei geht es zunächst um Fragen der alltäglichen Lebensweise, was aßen die Menschen, in welchen Siedlungen und Häusern lebten sie, woher kamen, wohin gingen und wie starben sie? Darüberhinaus kann die Archäologie unter Umständen auch zu komplexeren Fragestellungen Auskunft geben, zur verfassungsmäßigen Organisation eines Gemeinwesens, zur Infrastruktur und zur sozialen Gliederung einer längst untergegangenen Gesellschaft.

Bereits 1986 forderte Wolfgang Seidenspinner in seinem erstaunlich gering beachteten Artikel(1) von der Archäologie die Verwirklichung dieses Anspruches. Eine Verwirklichung, auf die wir noch heute hoffen. Gerade vor dem Hintergrund der lawinenartig anschwellenden Flut archäologischer Quellen überrascht die geringe Zahl ihrer Antworten zu den obigen Fragestellungen. Diese verblüffende Feststellung ergibt sich bei der Betrachtung der wichtigsten Forschungsfelder der Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit - wobei die Situation auch in den übrigen archäologischen Nachbarwissenschaften nicht grundlegend anders aussieht:

Zum Phänomen der frühmittelalterlichen Reihengräber gibt es mittlerweile eine absolut unüberschaubare Zahl von Veröffentlichungen. Die Gesamtzahl der bis heute aufgedeckten Bestattungen läßt sich nur noch schätzen und mit etwa 200.000 bis einer halben Million veranschlagen. Reihengräber sind eine einzigartige Quellengattung, sie bieten nicht nur ein breites Spektrum an Beigaben und Trachtbestandteilen, sondern eine für alle Epochen der Archäologie geradezu traumhaft gute Datierbarkeit, teilweise bis auf eine Generation genau. Betrachtet man aber die daraus resultierenden Erkenntnisse, ist eine überraschende Materiallastigkeit zu erkennen. Das Hauptproblem in der Forschung scheint die regionale, chronologische und typenkundliche Gliederung des Fundstoffs zu sein, überspitzt also das Problem, ob eine Fibel Typ XY "um viertel vor zwölf oder um halb eins" hergestellt worden und wo verbreitet ist. Dem stehen auf der anderen Seite nur ein gutes Dutzend Untersuchungen gegenüber, die sich den eigentlichen Zielsetzungen des Faches widmen, nämlich der Wiedergewinnung wenigstens eines kleinen Ausschnittes der Vergangenheit, also den Sozialstrukturen und Lebensumständen. Oder um ein anderes Beispiel zu nennen: Die Frage, ob es sich bei der im Grab gefundenen Tracht um ein "Totenhemd" oder den üblichen "Sonntagsstaat" handelt, ist allenfalls Gegenstand akademischer Gelehrsamkeit in Universitätsseminaren, bleibt aber etwa in der ungemein wichtigen weil gut bestückten und stark besuchten "Franken"-Ausstellung gänzlich unbehandelt.

Nicht anders verhält es sich mit dem faktischen - aber in der Öffentlichkeit praktisch unbekannten - Flaggschiff archäologischer Tätigkeit, der Keramikforschung. Eine stetig wachsende Halde von Einzeluntersuchungen, Abhandlungen und wenigen, umfassenden Monographien wird aufgehäuft, die immer weitere Warenarten und Randformentypen hervorbringt. Nahziel ist auch hier die Definition von zeitlichen und regionalen Typen, Fernziel die Gliederung des Fundstoffes in Provinzen oder die Aufdeckung von Formströmungen. Doch fast vergebens sucht man nach Betrachtungen zur Ernährungsweise, zur Funktion der Gefäße (die über einfache Ansprachen wie "Kochgeschirr" oder "Trink- und Schankgefäß" hinausgehen) oder gar zur sozialen Aussagekraft von Keramik.

Etwas besser sieht es lediglich im Bereich der Haus- und Gefügekunde aus, die aber schon durch ihre forschungsgeschichtlich bedingte große Nähe zur Volkskunde von vornherein Fragestellungen zur Funktion und sozialen Zuordnung der Gebäude einschließt.

Insgesamt ist die Scheu vor weiterreichenden Fragestellungen die Folge eines gerade in der Archäologie grenzenlosen Positivismus; erst sollen alle erreichbaren Quellen gesichtet und ausgewertet sein, das "Hilfsgerüst"der Chronologie und Typologie stehen, bevor weiterführende Erkenntnisse gewonnen werden können. Jede frühzeitige Analyse gerät leicht in den Geruch der mangelnden Übertragbarkeit oder gar Unwissenschaftlichkeit. Die absolute Sinnlosigkeit dieses Bemühens ist aber schon beim heutigen Quellenstand erkennbar:

Erstens müssen sich alle Archäologen damit abfinden, daß ohnehin nur ein geringer Teil des historischen Quellenmaterials überliefert ist und zudem durch die rasante Bautätigkeit, aber auch durch die erst jüngst erkannte Zersetzung im Boden einer zunehmenden Erosion unterliegt. Mit anderen Worten: selbst wenn in ferner Zukunft die letzte Grabung der Welt abgeschlossen worden wäre, könnten wir ohnehin nur einen winzigen Einblick in die Vergangenheit erlangen.

Zweitens kennt jeder Oberstufenschüler mit den Prinzipien der Stochastik die begrenzende Wirkung der Korrelationsrechnung auf die Aussagekraft des Quellenmaterials(2): eine Verbreiterung der Quellenbasis führt nur sehr bedingt zu einer Verbesserung der Aussagefähigkeit. Sobald der "Fehler der Kleinen Zahl" überwunden ist, also mehr als ca. 20 Quellen zu einer Fragestellung vorliegen, sind mit hoher mathematischer Wahrscheinlichkeit (i.d.R. über 70 % !!!) korrekte Aussagen möglich.

Drittens erwartet die Öffentlichkeit, also unser wichtigster Geldgeber, von der Archäologie weitergehende Erkenntnisse oder wenigstens wissenschaftlich haltbare Hypothesen zu jener untergegangenen Welt, die über die bloße Kärrnerarbeit der Quellenedition und innerwissenschaftlichen Typisierung hinausgehen.

Daraus folgt, daß die Archäologie gar nicht darauf hoffen kann, durch eine Vermehrung des Materials, insbesondere in den vergleichsweise umfangreichen Quellensparten wie Keramik, Kirchen oder Reihengräbern umfassendere neue Einblicke zu gewinnen als bis jetzt schon möglich sind oder wären. Eine weitere Zurückhaltung oder argwöhnische Abwehr, den "Urfragestellungen" nachzugehen ist nicht nur sinnlos, sondern auch ein gefährlicher Nachteil: Fast alle westdeutschen archäologischen Institutionen kämpfen gegen dramatische Haushaltskürzungen, während zugleich populärwissenschaftliche Autoren mit mehr oder minder falschen oder bestenfalls veralteten Darstellungen das Bild der Vergangenheit im öffentlichen Bewußtsein malen - hier sei nur auf die vom wissenschaftlichen Standpunkt her groteske "Germanen"-Reihe der "Bildzeitung" hingewiesen.

Als unverzichtbares Hilfsmittel zur Erlangung dieser Erkenntnisse sollte eine Theoriediskussion in der Archäologie beginnen, welche Aussagen überhaupt mit welchen Methoden zu erlangen sind. Der Bedarf ist enorm, er reicht von der Klärung geeigneter Grabungsmethodik bis hin zur Definition brauchbarer Instrumente der Quellenkritik. Dies würde auch den Weg ebnen, bereits bekannte Analysemethoden konsequent auf die vorliegenden Quellenbestände anzuwenden - das größte Desiderat ist hier die Verbindung von typologischer Betrachtungsweise und stratigraphischer Analyse der Keramikbestände - nur zu oft werden Funde und Befunde streng getrennt vorgelegt. Selbstverständlich müßte auch die Erstellung geeigneter Denkmodelle oder Modellansätze endlich aus der Tabu-Ecke im Elfenbeinturm hinausgelassen werden. Dies wäre natürlich auch der Ort, scheinbar überflüssige Fragen zu erörtern wie den Namen der "Wissenschaft A." Selbstverständlich hat jeder Wissenschaftler sein eigenes Repertoire an Methoden, Theorien und Modellen, sie werden nur zu selten thematisiert.

Die oft beschworene, aber selten realisierte Interdisziplinarität ist wahrscheinlich der einzige Schlüssel zur Vergangenheit. Wenn die Archäologie nicht einerseits beginnt, sich des reichen Erkenntnisstandes der Geschichte, aber auch der germanistischen Mediävistik umfassender zu bedienen, andererseits ihre eigenen Ergebnisse auch für Nachbardisziplinen erschließbar darzustellen, wird sie weiter im Elfenbeinturm bleiben. Selbstverständlich erfordert auch dies eine sorgfältige Abwägung, welche Erkenntnisse verwertbar sind

Eine Diskussion über die Grenzen und Möglichkeiten archäologischer Erkenntnis würde mehr Einblicke in die verlorene Welt eröffnen als 30 neu entdeckte Tonnen Keramik oder eine Million weiterer Reihengräber.

1. Seidenspinner, Wolfgang, Mittelalterarchäologie und Volkskunde. Ein Beitrag zur Öffnung und zur Theoriebildung archäologischer Mittelalterforschung. Zeitschr. für Archäologie des Mittelalters 14/15, 1986/87 (1989) 9-47.

2. Regressions- und Korrelationsrechnung. In: N. Ohler, Quantitative Methoden für Historiker. Eine Einführung (2. Auflage 1985) 97 ff.

Copyright 1998 Dr R. Atzbach M.A.
WWW-Umsetzung: Dr. S. Kirchberger M.A.

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